Der italienische Multiinstrumentalist und visuelle Künstler Ricky Guariento lädt die Zuhörer mit seinem neuen, 8:32 Minuten langen Instrumentalstück „Symphonic Reverie“ auf eine transzendente Klangreise ein. Durch die Verschmelzung der Tiefe des Progressive Metal mit der filmischen Größe des Symphonic Metal trotzt diese Komposition dem Zeitalter des Kurzformats und feiert die Kunst des bedeutungsvollen, immersiven Hörens. Philipp Gottfried spricht mit Ricky über Philosophie, Zusammenarbeit und kreative Überzeugung hinter seinem neuesten Werk.
Philipp: Ricky, „Symphonic Reverie“ dauert über acht Minuten – ein mutiger Schritt in der heutigen Streaming-Kultur. Was hat dich dazu inspiriert, dich gegen algorithmische Erwartungen zu stellen und eine Longform-Komposition zu schaffen?
Ricky: Acht Minuten sind nichts im Vergleich zu legendären Progressive-Rock-Suiten wie Genesis’ „Supper’s Ready“, Yes’ „Close to the Edge“ oder Jethro Tull’s „Thick as a Brick“. Ich erinnere mich, wie ich als Teenager meine Kopfhörer aufsetzte und mich von diesen endlosen Klangreisen davontragen ließ. „Symphonic Reverie“ ist mein kleiner Tribut an diese musikalischen Expeditionen – an jene, die man einfach nicht in drei Minuten komprimieren kann. Aber darüber hinaus musste ich etwas Verrücktes, etwas jenseits jeder Logik tun. Ich musste aufhören, mich um Algorithmen, Meinungen oder Akzeptanz zu kümmern. Das war ein Geschenk an mich selbst.
Philipp: Du hast gesagt, diese Veröffentlichung sei ein Geburtstagsgeschenk an dich selbst. Welche persönliche Reflexion oder welchen Wendepunkt stellt das für dich dar?
Ricky: Ich begann letztes Jahr, an diesem Projekt zu arbeiten – an meinem 50. Geburtstag. Bis dahin gab es in all meinen Produktionen und selbst in meinen lokalen Bandprojekten immer irgendein Element des Kompromisses. Ich erkannte, dass es an der Zeit war, der Welt zu zeigen, wer Ricky Guariento wirklich ist – ob zum Guten oder zum Schlechten. Keine Filter, keine Anpassungen. Nur ich.
Philipp: Der Track vereint Progressive- und Symphonic-Metal-Welten. Wie gelingt es dir, emotionale Tiefe zu bewahren, während du komplexe technische Strukturen erforschst?
Ricky: Für mich ist Technik nie das Ziel – sie ist das Fahrzeug. Jede Note, jede rhythmische Verschiebung, jede melodische Variation in „Symphonic Reverie“ wurde bewusst gestaltet, um der emotionalen Reise zu dienen. Komplexität ohne Emotion ist nur Lärm. Ich möchte, dass die Hörer fühlen, nicht nur das handwerkliche Können bewundern.
Philipp: Deine Zusammenarbeit mit Michiko erstreckt sich über 10.000 Kilometer zwischen Italien und Japan. Was war der überraschendste oder lohnendste Aspekt dieser Remote-Zusammenarbeit?
Ricky: Wir arbeiten seit drei Jahren zusammen – seit uns unser gemeinsamer Freund Michal Dijkstra vorstellte und wir das Projekt 80 Hundred Miles gründeten. Am meisten überrascht mich an Michiko, wie diese winzige japanische Schlagzeugerin das Drumkit mit solcher Wucht und Wildheit bearbeitet! Aber noch wichtiger: Wir teilen eine musikalische Telepathie – trotz der Entfernung, der unterschiedlichen Kulturen und des Altersunterschieds. Wir haben wahrscheinlich dasselbe metallische Blut in unseren Adern! Als ich ihr die ersten Riffs schickte, sagte sie sofort „Ja“, noch bevor ich fertig war mit Erklären. Sie hatte bereits alles verstanden.
Philipp: Du hast erwähnt, dass KI nur als Brücke diente, nicht als kreativer Partner. Wo ziehst du persönlich die Grenze zwischen menschlicher Kunst und technologischer Unterstützung?
Ricky: KI ist ein Werkzeug, ein Ausführender – kein kreativer Partner. Ich nutzte sie, um den Mixing-Prozess zu beschleunigen: Dutzende kurzer Fragmente mussten ausgerichtet, synchronisiert und koordiniert werden. Es wäre verrückt gewesen, keine Hilfsmittel zu verwenden, die das vereinfachen. Und ja, ich habe KI auch genutzt, um das Foto von mir und Michiko zu erstellen, da wir uns nie persönlich getroffen haben. Aber der kreative Prozess, die Entscheidungen, die Seele der Arbeit – das ist alles menschlich.
Philipp: Als Künstler, der von Caravaggios Chiaroscuro inspiriert ist – nimmst du Klang in Begriffen von Licht und Dunkelheit wahr, und wie prägt das dein musikalisches Erzählen?
Ricky: Ein Ausdruck, den ich liebe, ist „sonic painting“ – Klangmalerei. Meine Leidenschaft für Kunst und Fotografie hilft mir dabei enorm. Wenn ich komponiere, denke ich in Begriffen von Licht und Schatten – dieser Abschnitt ist Dunkelheit, hier explodiert das Licht. Zum Beispiel wurde mein vorheriger Track „Doomsday“vollständig um visuelle Vorstellungen herum konstruiert. „Symphonic Reverie“ ist dasselbe: Kontraste, Dramatik, plötzliche Ton- und Intensitätswechsel. Es ist Klangmalerei.
Philipp: Der Titel „Symphonic Reverie“ weckt traumhafte Assoziationen. Welche geistige oder emotionale Reise wolltest du für die Zuhörer erschaffen?
Ricky: Der Titel sagt alles: Ich wollte eine Träumerei, einen Wachtraum schaffen. Keine lineare Reise, sondern einen Ort, an dem sich jeder verlieren und wiederfinden kann. Ich wollte jenes Gefühl hervorrufen, das man kurz vor dem Einschlafen hat, wenn Realität und Fantasie verschwimmen und jeder Klang zu einer Geschichte wird. Wenn du auch nur für ein paar Minuten vergisst, wo du bist, und einfach reist – im Kopf oder im Herzen – dann habe ich meinen Job getan.
Philipp: Viele Künstler jagen heute Viralität statt Vision. Was bedeutet für dich künstlerische Integrität in einer Zeit, in der Algorithmen den Geschmack zu diktieren scheinen?
Ricky: Vor vielen Jahren, obwohl ich die Chance hatte, gab ich meine professionelle Musikkarriere auf. „Deine Musik ist interessant, aber…“ „Okay, ich produziere dich, aber lass uns etwas anderes machen…“ „Vergiss das Zeug, du hast eine schöne Stimme…“ Soll ich mich jetzt von einem Algorithmus steuern lassen? Keine Chance. Ich habe mich schon geweigert zu kompromittieren, als es Menschen von mir wollten – warum sollte ich mich also vor einem Stück Codeverbeugen? Künstlerische Integrität bedeutet, deiner Vision treu zu bleiben, selbst wenn niemand zuhört. Besonders dann.

Philipp: Du vereinst mehrere kreative Identitäten – von deiner Soloarbeit bis zu 80 Hundred Miles und Cohors Petrae. Wie beeinflussen sich diese Projekte gegenseitig?
Ricky: Und das sind nur die aktuellsten! Nur einige der vielen Facetten. Ich habe mit allem experimentiert – von Jazz bis Flamenco, von klassischer Musik bis Electro-Pop – und oft alles miteinander vermischt, um etwas Neues zu suchen. Ich mag es nicht, mich festzulegen. Ich brauche immer neue Reize, neue Abenteuer – aber zu meinen Bedingungen. Wie sie sich beeinflussen? Ich würde sagen, sie verschmelzen eher, als dass sie sich beeinflussen. Sie sind alle Teil desselben rastlosen kreativen Impulses.
Philipp: Dein Zitat „Leben heißt erschaffen, und erschaffen heißt, aufzuhören, nicht mehr zu leben“ klingt sehr philosophisch. Wie lebst du diese Idee im Alltag?
Ricky: Ich lebe in einer ständigen kreativen Dringlichkeit – jeden Moment des Tages. Ich kann es nicht erklären, aber wenn ich morgens aufwache, habe ich bereits Ideen für einen Comic, eine Geschichte, einen Track, ein Foto, das ich machen möchte. Und im Laufe des Tages kann jede Kleinigkeit – eine Geste, eine Situation, ein Satz – zur Inspiration werden. Es ist, als wären meine Antennen immer empfangsbereit. Kreation ist nichts, was ich plane – es ist, wie ich atme.
Philipp: Eine instrumentale Komposition bedeutet, eine Geschichte ohne Worte zu erzählen. Wie stellst du sicher, dass Emotion und Erzählung trotzdem klar durchkommen?
Ricky: Ich experimentiere mit Emotionen an mir selbst. Ich schreibe das, was ich „fühlen“ möchte, wenn ich etwas hören will, das genau diese Emotion vermittelt. Ich komponiere für den Zuhörer in mir und vertraue darauf, dass andere ihre eigene Bedeutung darin finden. Dann… kann jeder es so fühlen, wie es seine eigene Geschichte ihn gelehrt hat. Das ist das Schöne an instrumentaler Musik – sie lässt Raum für Interpretation.
Philipp: Welche Rolle spielen Stille oder Zurückhaltung in deiner Musik – besonders in einem Genre, das oft Intensität und Komplexität feiert?
Ricky: Stille kann mächtiger sein als das umgebende Chaos. Sie kann der Atemzug sein, den man braucht, wenn man vor etwas davonläuft, das einem Angst macht. Sie kann der Moment der Ruhe nach einer starken Emotion sein. Sie kann die Pause sein, um Gedanken zu sammeln, bevor man eine lange Reise fortsetzt. Ohne Stille verliert Intensität ihre Bedeutung. Es ist der Kontrast, der beidem Kraft verleiht.
Philipp: Progressive Metal war schon immer ein Genre der Entwicklung. Wo, glaubst du, liegt die nächste Innovationswelle?
Ricky: Paradoxerweise denke ich, die Zukunft des Prog Metal liegt in einer Rückkehr zu den Ursprüngen. Nach Jahren technischer Überlegenheit und Selbstbewunderung gibt es eine Rückkehr zu einem emotionaleren Prog. Bands wie Haken und Caligula’s Horse sind Beispiele dafür, wo Emotion nicht der Technik geopfert wird. Die nächste Welle wird nicht daraus entstehen, schneller zu spielen, sondern tiefer zu fühlen.
Philipp: Deine Zusammenarbeit mit Michiko verbindet auch zwei Kulturen. Hat diese Erfahrung deine Sicht auf Rhythmus, Timing oder Energie verändert?
Ricky: Um ehrlich zu sein: Michiko – obwohl sie halb so alt ist wie ich – hat genau das herausgeholt, was in mir war. Es war eine totale Übereinstimmung auf allen Ebenen. Wir sprachen dieselbe musikalische Sprache. Kultur spielte keine Rolle. Alter spielte keine Rolle. Wenn zwei Musiker dasselbe metallische Blut teilen, wird Geografie irrelevant. Sie verstand, was ich brauchte, noch bevor ich fertig war mit Erklären.
Philipp: Du hast dein eigenes künstlerisches Universum erschaffen – das „RickyVerso“. Wie verbindet dieses Konzept deine Musik, deine Bilder und dein Storytelling?
Ricky: „RESISTANCE“ ist das Wort, das alles verbindet. Widerstand gegen Ignoranz, gegen Hass, Grausamkeit, Lügen und falsche Freiheit. Ich möchte das sichtbar machen, was Menschen nicht sehen wollen. Ich möchte eine Chance geben – jenen, die wie ich denken, die keine Angst haben, innezuhalten und fast neun Minuten Musik zu hören. Jenen, die nicht bloß überleben, indem sie der Herde folgen, sondern die schwarzen Schafe sein wollen. Das RickyVerso ist ein Zufluchtsort für die Unruhigen, die Unzufriedenen, die Wachen.
Philipp: Als Commercial Director am Tag und Musiker bei Nacht – findest du Kontraste oder unerwartete Parallelen zwischen Business-Struktur und künstlerischer Freiheit?
Ricky: Ich würde sagen, es sind zwei parallele Leben, die sich manchmal kreuzen. Auch in der Geschäftswelt sind heute Kreativität und die Fähigkeit, sich abzuheben, unerlässlich. Und oft nutze ich meine eigene Musik für Marketingkampagnen – so spare ich mir die Urheberrechtsgebühren (lacht). Aber im Ernst: Beide Bereiche erfordern Disziplin, Vision und den Mut, Risiken einzugehen. Der Unterschied ist: Im Geschäft verhandelst du mit Kunden. In der Musik verhandelst du mit dir selbst.
Philipp: Jeder kreative Akt birgt Risiken – künstlerische, emotionale oder auch finanzielle. Welche Risiken bist du mit „Symphonic Reverie“ eingegangen?
Ricky: Die emotionale Reise war intensiv – ein Wechselspiel zwischen Euphorie und Erschöpfung. Es gab Momente, in denen ich das Ziel nicht mehr sah, und das war deprimierend. Das größte Risiko war, etwas zu schaffen, das niemanden interessiert. Aber ehrlich gesagt? Das war mir egal. Das schönste Kompliment, das ich bekam, war: „Ich erkenne dich nicht wieder. Das klingt nicht nach dir.“ Mission erfüllt. Das bedeutet, dass der wahre Ricky endlich zum Vorschein kam.
Philipp: Wenn „Symphonic Reverie“ als immersive Kunstinstallation erlebbar wäre – wie würdest du dir den Raum vorstellen, die Lichter, Texturen, die Atmosphäre?
Ricky: Ich stelle mir einen Raum wie eine gotische Kathedrale vor – wie auf dem Albumcover. Hohe Gewölbedecken, steinerne Säulen. Das Licht beginnt in Dunkelheit, dann erhellen sich langsam warme, bernsteinfarbene Strahlen von hinten, werfen lange Schatten. Mit dem Aufbau der Musik pulsiert und wechselt die Lichtintensität – kühle Blautöne in den ruhigen Passagen, glühendes Gold und tiefes Rot in den schweren Abschnitten. Die Texturen wären kalter Stein im Kontrast zu warmer Beleuchtung – genau wie der Gegensatz zwischen Stille und Chaos in der Musik selbst. Ich möchte, dass die Menschen sich gleichzeitig klein und mächtigfühlen. Umgeben von etwas Altem, das von neuer Energie erfüllt ist.
Philipp: Abschließend – welche Botschaft oder Emotion möchtest du, dass die Hörer lange nach dem Verklingen der letzten Note mitnehmen?
Ricky: Einfach nur… dass sie mit mir gereist sind. Und welche Emotion auch immer bleibt – ich hoffe, sie bleibt eine Weile. Nicht verloren im nächsten Scroll.
Mehr zu Ricky Guariento im Netz:
Ricky Guariento – Offizielle Website:
Https://ilrickyverso.it
Ricky Guariento bei Spotify:
https://spotify.link/yYpmLAhDxXb
Ricky Guariento auf YouTube:
https://youtube.com/channel/UCJWU9Cxn4CyVuSNM9v2i-uA